Wettbewerb auf der Schiene! Im Jahr 2050? | 2010-12-27

Im Oktober dieses Jahres stellte die Deutsche Bahn AG ihren Plan vor, in Zukunft auch London mit ihren Zügen anzufahren, und präsentierte dazu einen ICE im Bahnhof St. Pancras. Europa einig Bahnland!

In der Ludwig-Erhard-Stiftung in Bonn wunderte man sich bei der Lektüre eines Presseberichts dazu, dass der Zug für die Presse-Show den Weg nicht mit eigener Kraft geschafft hatte, sondern von einer französischen Lok durch den Kanaltunnel gezogen werden musste. Welche Bizarrerie steckte dahinter?

Die Verwunderung mündete in den Wunsch nach einem Aufsatz. Er ist dieser Tage in der Vierteljahresschrift der Stiftung erschienen, den „Orientierungen“. Ein Auszug der Ausgabe steht hier zum Download bereit (die kompletten Ausgaben der „Orientierungen“ sind kostenlos auf der Website der Stiftung verfügbar). Zudem stellen wir hier eine Übersetzung des Textes ins Englische bereit.

Gottfried Ilgmann begann den Text mit ein paar motivierenden Absätzen, die im Druck aus Platzgründen entfallen mussten. Sie schildern einen Parlamentarischen Abend des Verkehrsausschusses im Bundestag – ebenfalls im Oktober.
Wer die heiter-traurigen Lehren jenes Abends zum Einstieg in die Lektüre nutzen will, lese bitte zunächst hier nach dem Download-Link weiter und erst danach den gedruckten Aufsatz.


Download

Wettbewerb auf der Schiene:
Von der EU verordnet, von den Staatsbahnen unterlaufen
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(PDF, 135 KB)
Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik
Vierteljahresschrift der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn
Nr. 126, Dezember 2010, S. 57-63

Competition on the tracks: Demanded by the EU Commission, undermined imaginatively by the state railways
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(PDF, 128 KB)
Wettbewerb auf der Schiene – englische Übersetzung
Veröffentlicht am 24. März 2011


Motivation

Wettbewerb auf der Schiene: Von der EU-Kommission verordnet, von den Staatsbahnen fantasievoll unterlaufen

Brüssel will mit Gesetzespaketen einen liberalisierten Schienenverkehrsmarkt erzwingen. Die Staatsbahnen und auch deren Eigner, die Mitgliedsstaaten selbst, zeigen sich verbal aufgeschlossen, unterlaufen aber die hehre Absicht. Die Europäische Kommission nun lässt auf den wichtigsten Feldern Tore offen, dem Wettbewerb auszuweichen, und projiziert die Vollendung des europäischen Schienenverkehrsmarktes auf das Jahr 2050. Bis dahin aber werden die Konkurrenten, insbesondere Straßen- und Luftverkehr, in herbem Wettbewerb untereinander weitere Innovations- und Kostensenkungsschübe durchlaufen haben. Wenn in ferner Zukunft also der Schienenverkehrsmarkt völlig liberalisiert ist, wird die Bahnbranche wegen nachhinkender Innovations- und Kostensenkungsrate noch schlechter gegenüber ihren Konkurrenten dastehen als heute.

Mitten aus dem Leben: Ein Parlamentarischer Abend in Berlin

Berlin, Unter den Linden, in der Vertretung der Europäischen Kommission am 26. Oktober 2010: Winfried Hermann (GRÜNE) hat geladen. Er ist Vorsitzender des Verkehrsausschusses und damit zugleich Vorsitzender der Parlamentsgruppe Schienenverkehr im Deutschen Bundestag, einer Art überfraktioneller Vereinigung von mehr als 100 Abgeordneten zur Förderung der Eisenbahn.

Das Thema an diesem Tag: „Potenziale und Perspektiven des europäischen Schienenverkehrs“. Eine der vielen Veranstaltungen der Selbstbeweihräucherung und der Sorge um Kürzung der Subventionen für die Bahn? Diesmal nicht!

Matthias Ruete, der Generaldirektor für Mobilität und Transport (DG MOVE) der Europäischen Kommission, gibt einen Überblick über die Eisenbahnpakete. Es handelt sich nicht um Päckchen und Pakete, die mit der Bahn transportiert werden, sondern um Pakete von Gesetzen, in der EU-Sprache „Richtlinien“, abgekürzt „RiLs“. Drei Pakete gibt es, das vierte hat die Kommission soeben als Entwurf vorgelegt.

Die Eisenbahn-Pakete sollen uns einen europäischen Wettbewerbsmarkt auf der Schiene bescheren, der alle technischen und rechtlichen Hindernisse beseitigt hat. Ein belgisches, schwedisches oder ungarisches Eisenbahnunternehmen sollen dann auf dem deutschen Netz ebenso einfach im Wettbewerb agieren können wie auf dem Heimatmarkt.

Das Glanzlicht der Rede des deutschen Generaldirektors: Im Jahr 2050 soll dieser europäische Markt auf der Schiene vollendet sein. Doch schon!

Ist dies nur die persönliche Einschätzung eines Spitzenbeamten? Nein! Er gibt hier einen Traum seines politischen Vorgesetzten Siim Kallas wieder. Kallas war Ministerpräsident von Estland, heute ist er EU-Verkehrskommissar und Stellvertreter von EU-Präsident Barroso, ihm untersteht die DG MOVE. Vor zwei Monaten hat er auf der Innotrans, der weltweit größten Eisenbahnmesse, die alle zwei Jahre in Berlin stattfindet, aufgerufen: „Let us have a dream, a railway dream … a Single European Railway Area in 2050“. Viele der zirka 250 Teilnehmer des Parlamentarischen Abends, die Matthias Ruete zuhören, werden bis dahin ein biblisches Alter erreicht haben.

Nach Ruete spricht Christian Böttger. Der Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin bewertet die Fortschritte der Bahn-Liberalisierung in Europa. Großbritannien bekommt die Bestnote „geöffnet“, Schweden das Prädikat „weitgehend geöffnet“, Deutschland „zum Teil geöffnet“. Alle übrigen EU-Eisenbahnnationen erhalten das Prädikat „gering geöffnet“ oder „nicht geöffnet“ – zu dieser niedrigsten Kategorie gehört Frankreich, das nach Deutschland zweitgrößte Eisenbahnland in Europa.

Die Deutsche Bahn stellt sich selbst anders dar. In ihrem Wettbewerbsbericht 2009 lobt sie sich im Personenverkehr an die Spitze in Euroland, im Güterverkehr – zusammen mit drei weiteren Ländern – nur wenig entfernt davon. Der Widerspruch regt niemanden auf. Es wird keine Wortmeldung in der späteren Diskussion geben.

Dann aber seziert Böttger, der vor seiner Berufung bei der Deutschen Bahn und auch beim Eisenbahnausrüster Siemens arbeitete, den letzten Geschäftsbericht der Deutschen Bahn (DB). Im Mittel der letzten vier Jahre 2006 bis 2009 habe der DB-Konzern ein Drittel seines EBIT (Ergebnis vor Zinsen und Steuern) aus dem Schienennetz gezogen – ebenso viel wie aus sämtlichen seiner Transportunternehmen und über zweieinhalb mal mehr als aus allen Logistikunternehmen, die er in den vergangenen zehn Jahren gekauft hat, um in dieser Branche weltweit mitspielen zu können.

Die DB habe für sich den Anspruch formuliert, eine Rendite auf das eingesetzte Kapital (ROCE, Return On Capital Employed) von 10 Prozent zu erzielen, so Böttger. Diese Vorgabe habe sie in der Logistik noch nie erreicht. Von 2007 bis 2009 sei der Renditewert dort von 8,5 auf 2 Prozent abgestürzt. Entsprechend erregt zeigt sich der in der ersten Reihe sitzende Karl-Friedrich Rausch, Logistikchef der Deutschen Bahn.

Olaf Krüger, Direktor der Zentralleitung der europäischen Bahnverkehre des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, referiert danach über den Status der Liberalisierung des europäischen Schienengüterverkehrs. Er unterscheidet nach

  1. Ganzzugsverkehr (30 Prozent der gesamten Gütertransportleistung auf der Schiene), bei dem alle Wagen eines Zuges die gleiche Quelle und das gleiche Ziel haben, z.B. der Transport neuer Pkw vom Werk zu einem Seehafen,

  2. dem KV, dem Kombinierten Verkehr (20 Prozent), also Zügen, die über die weiten Strecken (Hauptlauf) ganze Lkw oder auch nur ihre Sattelanhänger auf Flachwagen transportieren,

  3. dem Einzelwagenverkehr (50 Prozent) – also Zügen, die zunächst in Rangierbahnhöfen aus Einzelwagen oder Wagengruppen zusammengestellt und nach dem gemeinsamen sogenannten Hauptlauf an einem solchen Rangierbahnhof wieder auseinandergerupft werden und dann mit Nahverkehrsgüterzügen ihr endgültiges Ziel erreichen oder in den Hauptlauf zu ferneren Zielen wieder in einen Zug eingestellt werden.

Dem Ganzzugverkehr bescheinigt Olaf Krüger positive Preis- und Qualitätsentwicklung. Dort erzielen die privaten Wettbewerber Jahr für Jahr höhere Marktanteile. Dann aber moniert er den Trend, dass die Staatsbahnen genau diese Wettbewerber „aus dem Markt kaufen“, und warnt vor einer Liberalisierung ohne Wettbewerber.

Dem kombinierten Verkehr bescheinigt Krüger eine positive Preisentwicklung, jedoch aktuell Qualitätsprobleme, denn der KV stößt zunehmend auf Kapazitätsengpässe in Häfen und KV-Terminals sowie im Zu- und Ablauf der Nordseehäfen.

Krügers Urteil über die Chancen des Klassikers des Güterverkehrs, des Einzelwagenverkehrs, fällt düster aus. Er sei ausschließlich in der Hand der Staatsbahnen, denn die Wettbewerber hätten an ihm kein Interesse: Sie können nicht genügend Kundenpotenzial auf sich vereinen, um lange Güterzüge im Hauptlauf zusammenstellen zu können. In Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Italien haben nun die Staatsbahnen den Einzelwagenverkehr bereits eingestellt. In anderen Ländern, wie z.B. in Deutschland, werde er zwar durchgreifend rationalisiert (will wohl heißen auch zum Teil wegrationalisiert), aber dennoch würden die Preise explodieren.

In riesigen Lettern wirft Krüger daher seine Diagnose auf die Leinwand: „Die Liberalisierung ist für nahezu 50 Prozent des Eisenbahngüterverkehrs unwirksam“. Hier müsse neben der Liberalisierung dringend etwas geschehen.

Die Diskussion an diesem Abend beherrscht weitgehend Johannes Ludewig, seit 2002 Exekutivdirektor der Gemeinschaft von über 60 europäischen Bahnen, der CER (Community of European Railway and Infrastructure Companies), in der die integrierten Staatsbahnen dominieren. Chairman der CER ist Mauro Moretti, Chef der Ferrovie dello Stato (FS), der italienischen Staatsbahn.

Johannes Ludewig sagt etwas, das einige der Gäste hörbar amüsiert: „Wir brauchen den Wettbewerb, um besser zu werden“.

Recht hat Ludewig, der von 1997 bis 1999 selbst Chef der Deutschen Bahn war. Denn nur der vom Wettbewerb ausgehende Innovations- und Kostensenkungswettlauf der Eisenbahnunternehmen untereinander stärkt die Bahnbranche auch wirksam gegenüber den Wettbewerbern auf der Straße und in der Luft. Warum dann die amüsierte Reaktion? Vielleicht wegen der realen Geschichte des Wettbewerbs in Bahn-Europa?

… und weiter im Text in den „Orientierungen“