Ein Preis für den ersten nur von Software erstellten Fahrplan
Unser Projekt „Trassenbörse“ (das hier eine eigene Seite besitzt →) feierte 2010 einen besonderen Erfolg. Zum ersten Mal überhaupt gelang es, für einen real bestehenden Eisenbahnknoten hoher Komplexität optimale Zugfahrpläne zu errechnen. Das geschah in einer Studie, die sich mit der Kapazität der Simplon-Strecke zwischen Brig in der Schweiz und Domodossola in Italien befasste. Diese Strecke ist Teil der Alpenquerung über den Lötschberg und unter anderem deshalb besonders verzwickt, weil bestimmte Zugtypen abschnittweise auf dem Gegengleis geführt werden müssen, um durch die engen Tunnelkurven zu passen.
Was ist ein „optimaler“ Fahrplan? Optimal bedeutet hier die bestmögliche Erfüllung eines messbaren Ziels. Planer können dieses Ziel frei vorgeben. Es kann zum Beispiel die maximale Auslastung des Netzes sein oder der maximale Erlös aus Trassenentgelten oder – bei Personenzügen – die geringste Reisezeit auf den meistgenutzten Umsteigeverbindungen.
Optimal meint also – anders als im umgangssprachlichen Sinn – nicht nur den besten aus einer Reihe alternativer Fahrpläne, die durch Planung per Hand hergestellt wurden. Gerade bei schwierigen Netzen kann ein derart „heuristisch“ gebastelter Fahrplan weit hinter dem bestmöglichen Fahrplan zurückbleiben. Die Errechnung eines optimalen Eisenbahn-Betriebsplans als mathematisch beweisbar beste Lösung ist daher keineswegs trivial und stand im Fokus des Forschungsprojekts Trassenbörse.
Das Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB) war im Projekt der Partner für diese mathematische Herausforderung. Thomas Schlechte vom ZIB bekam im September für seine Arbeiten an diesem Thema den Preis für herausragende Dissertationen der ↑ Gesellschaft für Operations Research (GOR) e.V..
IMP gratuliert Thomas Schlechte herzlich! Er hat jetzt auch in der Zeitschrift der GOR einen allgemeinverständlichen Aufsatz über das Thema veröffentlicht, betitelt Duell an der Weiche (PDF, 275 KB).
Das kurze Werk ist nicht nur für Laien mit Freude an der Mathematik vergnüglich zu lesen, sondern vermag auch Verantwortlichen für die Vermarktung von Bahninfrastruktur eine Menge mitzugeben.
Praktische Bedeutung und praktische Hürden
Nun hat dieser bedeutende Fortschritt in der Rechenkunst heute nicht einmal den allergeringsten Einfluss auf die Eisenbahn in Deutschland. Klingt paradox, nicht wahr? Das bedarf wohl der Erläuterung.
Mit dem Instrumentarium der Trassenbörse könnte unter anderem zum ersten Mal folgende Frage beantwortet werden: Durch welche Baumaßnahme, für die ein maximaler Investitionsbetrag X zu Verfügung steht, kann man den größten Zuwachs an Durchlasskapazität oder Trassenerlösen (oder eben die Erfüllung weiterer Ziele) erreichen?
Damit könnten die Verkehrspolitik oder die Bahn eine Investitionsstrategie aufsetzen, die a priori auf den Gesamtnutzen des Schienennetzes zielt. Maßnahmen aus einseitig regionalem Interesse oder bloße Imageprojekte würden sich nicht mehr einfach durchsetzen lassen, denn ihre geringe Wirtschaftlichkeit im Vergleich wäre sofort offensichtlich.
Warum also steht das Instrumentarium der Trassenbörse nicht an oberer Stelle auf der Agenda der DB Netz AG? Warum musste das Forschungsprojekt „Trassenbörse“, gefördert vom Bundesminister für Wirtschaft in Berlin, ausländische Netzbetreiber bitten, an ihren Daten die Softwareentwicklung praktisch testen zu dürfen? Warum liegt das erprobte Instrumentarium auch nach dem qualifizierten Abschluss des Projektes derzeit brach, obwohl mit seiner Hilfe beweisbar an einer besseren Nutzung der Schiene und an der Effizienz der Infrastrukturinvestition gearbeitet werden könnte?
Es gibt viele und recht traurige Gründe dafür. Etwa diese:
Eines fernen Tages würde mit dem Instrumentarium der Trassenbörse eine Diskriminierung bei der Trassenzuteilung schon im Keim verhindert. Jede Entscheidung über die Trassenvergabe wäre transparent. Quasi auf Knopfdruck könnten Regulierungsbehörden (in Deutschland heute die Bundesnetzagentur) jede Entscheidung auf Wettbewerbsneutralität hin prüfen. Damit wäre der Spielraum der DB Netz arg eingeschränkt, den Transportschwestern im Konzern (DB Schenker Rail etc.) Vorteile zu verschaffen. Dies ist aus Sicht eines integrierten Bahnkonzerns nicht erstrebenswert.
Aus Sicht der Verkehrspolitik sind rationale Investitionsentscheidungen weniger gefragt, als man annehmen möchte. Projekte wie zum Beispiel Stuttgart 21 ließen sich kaum durchsetzen, weil ihr geringer Nutzen – bezogen auf das Gesamtnetz – beweisbar werden würde.
Die DB Netz ist noch nicht in der Gegenwart angekommen. Auf die Frage, warum sich das Unternehmen weigere, detaillierte Netzdaten zum Praxistest des Forschungsprojekts Trassenbörse zur Verfügung zu stellen, erklärte vor Jahren ein Manager der DB Netz AG vor vielen Zeugen, bei diesen Daten handele es sich um „essential facilities“. Das ist gleichbedeutend mit Geheimniskrämerei – also jeglichen Dritten zu verwehren, sich über eine rationelle Bewirtschaftung des bundeseigenen Schienennetzes Gedanken zu machen und die Ergebnisse ohne vorheriges Plazet durch die DB Netz zu veröffentlichen.
Mithin sind es egoistische Interessen, die Fortschritte in der Netzbewirtschaftung und ihrem Aus- und Umbau schwierig machen. Das trifft vielleicht am wenigsten die sehr kleine Zunft professioneller Fahrplaner: Es mag sein, dass in Zukunft weniger Mitarbeiter direkt zur Erstellung von Eisenbahn-Betriebsplänen gebraucht würden. Aber die Kompetenz dieser Menschen bleibt gefragt, denn ein Computerprogramm zur optimalen Planung kann nur funktionieren, wenn existierende und vorgeschlagene Infrastrukturen und die Feinheiten und Besonderheiten des Bahnbetriebs stets aktuell in den verwendeten Modellen abgebildet sind.
Günter Saßmannshausen, Vorsitzender der Regierungskommission Bahn (1989-91), danach Aufsichtsrats- und Ehrenaufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG, formulierte einst: „Das Netz ist der Kern der Eisenbahn.“ Die Bereitstellung des Schienennetzes, das heißt es zu bauen, zu betreiben, instandzuhalten und zu modernisieren, macht wirtschaftlich etwa die Hälfte der Wertschöpfung des deutschen Eisenbahnverkehrs aus. Wenn also die Wertschöpfung aus dem Netz nicht mit den neuesten Werkzeugen geschieht, dann wird die Eisenbahn trotz aller Fortschritte beim Transport auf der Schiene insgesamt weiterhin am Subventionstropf des Steuerzahlers hängen – eine schmerzhafte Perspektive angesichts der beschlossenen Schuldenbremse in den öffentlichen Haushalten!